Mit krummen Rücken stapft sie die steile Wiese herauf. Ich erkenne sie. Sie trägt einen gemusterten Kittel über dem langen Rock. Strümpfe aus grober Wolle verschwinden in hohen Wanderschuhen. Das Kopftuch ist unter dem Kinn gebunden. Beide Hände umschließen Walkingstöcke. Schon letzten Herbst begegnete ich ihr hier auf dieser Naturpfad-Runde. Ich sitze bei der Informationstafel fünf Meter neben der Bergwachtmarienkapelle. Sie kommt auf mich zu. Die blauen Augen hellwach, den Blickkontakt haltend, ein stimmstarker Gruß, ein Goldblitz aus ihrem Mund, die Gesichtshaut in tausend tanzende Falten gefächert. Sie geht an mir vorbei zur Kapelle, öffnet das Gatter, schließt es hinter sich, lehnt ihre Stöcke an den Zaun und setzt sich mit Blick zur Gottesmutter Maria.
Die Bank ist ein schmales Brett und die Querstrebe vom Gatter drückt hart auf die Wirbelsäule. Kein Ort zum gemütlichen Verweilen. Im Rücken Almwiesen, die zu vereinzelten Häusern abfallen um dann wieder zu Fichtenwäldern aufzusteigen. Die Sonne trifft am Vormittag den Nacken der dort Sitzenden und beleuchtet die hölzerne Marienstatue. „Drückt dich ein Weh‘, zur Mutter geh‘. Und sag es Ihr, gern hilft sie dir“ ist blau auf das Altartuch gestickt. Frische Schnittblumen am Steinboden neben der Bank, Topfpflanzen am Altar. Der untere Teil der Holztür, ist mit Bauernmalerei und dem in sich verschränkten Schriftzug MARIA verziert. Im oberen Teil ist ein Eisengitter eingesetzt, um den Blick in das Kapelleninnere freizugeben.
Die Frau bekreuzigt sich mit dem Daumen der rechten Hand auf Stirn, Mund und Brustkorb und legt dann die Hände in den Schoß. Ihr nach vorne gebeugter Oberkörper hebt und senkt sich mit den tiefen schnellen Atemzügen. Die Bewegung wird langsam flacher, der Aufstieg ist geschafft. Ich will sie nicht länger beobachten, will ihr Raum geben. Ich gehe hinter ihr vorbei um den Einstieg zum Natur-Lehrpfad zu nehmen. Eine Spazierrunde dauert etwa 30 Minuten. Der gemäßigte Rhythmus meiner Schritte spielt mir Bilder zu … dreht, legt, steht, rührt, füllt, schleppt, streicht, rupft, reicht, …
Sie dreht ihr dünnes Haar in einen Knoten und legt das Haarnetz drüber
Sie steht am Herd und rührt mit blauen Fingern in einem großen Topf Schwarzbeeren
Sie füllt Glas um Glas mit Hollerkoch
Sie schleppt einen Korb Bügelwäsche in die Stube
Sie streicht das Tischtuch glatt
Sie rupft Unkraut aus dem Salatbeet
Sie reicht ihrer Enkeltochter einen Holzlöffel zum Spielen
Es sind szenische Blitzlichter, keine ruhigen Standbilder, in denen ich Details nachgehen könnte.
Ich weiß nichts von dem Leben dieser Frau. Ich nehme an, es war mit harter, körperlicher Arbeit verbunden, mit Pflichten ausgefüllt. Jetzt im Alter werden die Aufgaben weniger, sie findet Zeit für einen Spaziergang.
Ich sehe, wie sie sich im Vorraum auf einem Sessel sitzend, vorn über beugt und ihre braunen Lederschuhe schnürt. Sie stützt ihre Hände auf die Oberschenkel und stemmt sich in die Höhe. Sie streckt ihre steifen Gelenke. Sie nimmt die Walkingstöcke, geht über den Kies des Hofes. Als sie nach 20 Metern auf den Ziehweg hinaustritt, ist sie sich eingegangen, sie wirkt beweglich und verjüngt. Die Morgenrunde führt sie täglich rauf zum Natur-Lehrpfad. Täglich bedankt sie sich für diesen Luxus bei der Heiligen Maria.